4. März bis 30. April 2023
Das Telgter Hungertuch stellt eines der bedeutendsten religiösen Kulturgüter Westfalens dar.
Das Telgter Hungertuch von 1623 feiert Geburtstag
Im Jahre 1623, während des 30-jährigen Krieges, fertigten adlige Damen aus Telgte in mühevoller Filetstopfarbeit das bedeutende Fastentuch, welches bis 1907 in der örtlichen Kirche St. Clemens und St. Sylvester zur Passionszeit den Altarraum verhüllte.
1633 wütete die Pest in Europa und die Oberammergauer Bevölkerung legte das Gelübde ab, alle zehn Jahre das Leiden und Sterben Christi aufzuführen, wenn das Dorf von der Pest verschon bliebe. Das Versprechen wurde erhört und 1634, ebenfalls während des 30-jährigen Krieges, wurden die ersten Passionsspiele aufgeführt.
Diese beiden Ereignisse werden nun in einer Ausstellung zusammengeführt.
Das Telgter Fastentuch besteht aus 33 Bildfeldern, die die Passionsgeschichte, Symbole der vier Evangelisten, das Lamm Gottes sowie fünf Szenen aus dem Ersten (Alten) Testament zeigen. Das letzte Feld gibt über den Anlass der Entstehung und die Datierung Aufschluss: „Zum Gedächtnis an das heilbringende Leiden und zur Zierde der Telgter Kirche im Jahre des Herrn 1623 mit spitzer Nadel gestickt.“ Die Oberammergauer Passionsspiele erzählen die gleiche Geschichte und sogenannte lebende Bilder präsentieren teilweise die gleichen Szenen aus dem Ersten Testament wie auf dem Hungertuch abgebildet.
Gewänder und Requisiten aus den Passionsspielen sowie filigrane Schnitzereien, Hinterglasbilder und Rauminstallationen aus dem Oberammergau Museum nehmen die Besucherinnen und Besucher mit auf eine sinnliche und poetische Reise, auf der sie die Bedeutung der Passionsgeschichte und das Geheimnis von Verhüllung und Offenbarung entdecken können.
Das Konzept der Ausstellung basiert auf Ideen aus der Ausstellung (IM)MATERIELL, die bis zum Februar 2023 im Oberammergau Museum gezeigt wurde. Darin wurde die Museumssammlung fast vollständig verhüllt. Diese Idee der Verhüllung von Räumen und Objekten mit Stoffen von Gewändern der Passionsspiele wurde von den Museumsleiterinnen Dr. Constanze Werner und Dr. Anja Schöne für die Telgter Ausstellung neu gedacht und konzipiert, um den Verhüllungsgedanken von Fastentüchern mit künstlerischen Installationen zu visualisieren. Die künstlerische Umsetzung lag in den Händen von Michaela Johanne Gräper.
Wir danken der Stiftung der Sparkasse Münsterland Ost für die Finanzierung der Ausstellung.
Kurze Geschichte: Hungertücher
In vielen Regionen Zentral- und Westeuropas wird seit dem Mittelalter im Chorraum der Kirchen während der Fastenzeit ein sogenanntes ‚Hungertuch‘ oder ‚Fastentuch‘ aufgehängt, um Kreuze und Bilder, Altaraufbauten oder gar den Altarraum ganz oder teilweise zu verhüllen. In der Regel hingen die Tücher hier vom Aschermittwoch bis zum Mittwoch vor Ostern. Die versammelte Gemeinde war dadurch von der unmittelbaren Mitfeier der Messe ausgeschlossen; sie sollte weder die Liturgie noch die Altarbilder sehen. Für den mittelalterlichen Menschen war das eine schmerzliche Entbehrung; es wurde als ein Bußakt verstanden. Dieser Brauch änderte sich, als die ursprünglich einfarbigen Tücher als Ausdruck einer neu entwickelten Passionsfrömmigkeit mit Symbolen und Szenen des Leidens und Sterbens Christi geschmückt wurden. Seit dem 14. Jahrhundert zeigen einzelne Tücher in einem rasterförmigen Aufbau die Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zum Weltgericht.
Als das bedeutendste historische Tuch in Westfalen gilt das genannte Telgter Hungertuch, das bis 1907 jährlich in der Passionszeit in der Telgter Pfarrkirche St. Clemens und St. Silvester aufgehängt wurde, bis es zu stark verschlissen war. Nach einer überaus wechselvollen Geschichte des Tuchs, das 1910 an ein Berliner Museum verkauft worden war, gelang es in jahrzehntelangen Bemühungen, das Hungertuch zunächst als Leihgabe nach Telgte zurückzuholen, letztlich dann 1971 wieder zu erwerben. Im heutigen Museum Religio wird es in einem eigens für das Tuch geschaffenen Ausstellungsraum dauerhaft präsentiert.
Anders als etwa die alten Tücher aus dem alpenländischen oder dem Zittauer Raum waren die westfälischen Tücher nicht farbig bemalt, sondern in aufwendiger Stickarbeit gefertigt. Das Telgter Tuch ist das am besten erhaltene Fastentuch der Region aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts. Mit seinen Maßen von ca. 7,40 m Breite und 4,40 m Höhe zeigt es in 33 Bildfeldern Szenen der Passion Christi, die Evangelistensymbole und als einziges Tuch im Westfalen 5 typologisch zu verstehende Bildfelder – alttestamentliche Szenen, die auf das Heilswerk Christi vorverweisen. Die ungewöhnliche Aufnahme der Marienklage in den Bildzyklus dürfte in der lokalen Tradition der Marienverehrung und in einem konkreten Bezug auf das Telgter Gnadenbild aus dem 14. Jahrhundert begründet sein.
Dr. Rudolf Suntrup, Dr. Anja Schöne